S. Guex u.a.(Hrsg.): Steuern und Ungleichheit. Fiscalité et inégalités

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Title
Steuern und Ungleichheit. Fiscalité et inégalités.


Editor(s)
Guex, Sébastien; Hürlimann, Gisela; Leimgruber, Matthieu
Series
Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte / Annuaire suisse d’histoire économique et sociale
Published
Zürich 2021: Chronos Verlag
Extent
285 S.
by
Florian Schui

Dieser sehr gelungene Band geht auf eine Tagung im Jahr 2019 zurück und konzentriert sich thematisch auf den Zusammenhang zwischen Besteuerung und ökonomischer Ungleichheit. Der chronologische Rahmen reicht vom Mittelalter bis zur Gegenwart, wobei der Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert liegt. Geographisch gilt der Fokus der Schweiz, aber auch einigen Nachbarländern und den USA sind Beiträge gewidmet. Gegliedert sind die Aufsätze in vier Abschnitte, von denen die letzten beiden deutlich mehr Raum einnehmen: «Steuern und Ungleichheit in Mittelalter und früher Neuzeit», «Vermögens- und Einkommensdaten: Ungleichheit erforschen», «Reformen Begründen, Ungleichheit bekämpfen? Steuern und Abgaben zur Umverteilung» und «Wie viel Steuern für wen? Verhandlung, Privilegien, Compliance und Protest».

Der Themenschwerpunkt ist gut gewählt, handelt es sich doch bei der Frage der ökonomischen Ungleichheit um eine der zentralen Fragen unserer Zeit, die ohne historische Einordnung kaum sinnvoll diskutiert werden kann. Der von den Herausgeber_innen hergestellte Bezug zur Besteuerung liegt auf der Hand. Gleichzeitig ist die Besteuerung aber auch nur einer von einer Reihe von Faktoren, die ökonomische Verteilung beeinflussen. Hier liegt eine der zahlreichen konzeptionellen Stärken des Bandes: Neben Beiträgen, die den direkten Zusammenhang von Besteuerung und Verteilung beleuchten, sind auch Texte zu finden, die sich mit anderen Faktoren beschäftigen, die Verteilung beeinflussen. Auch auf diesem Weg trägt der Band dazu bei, den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Besteuerung schärfer in den Fokus zu nehmen.

Für die Schweiz wird diese Kontextualisierung sehr erfolgreich im Beitrag «Ungleichheit und Steuern» vorgenommen. Zur Erklärung des Paradoxes einer vergleichsweise niedrigen ökonomischen Ungleichheit bei gleichzeitiger relativ geringer Umverteilung durch Besteuerung und Staatsausgaben wird hier auf die kleinere Ungleichheit bei Löhnen und die niedrige Arbeitslosigkeit verwiesen. Beide Faktoren sind eng miteinander verknüpft und ihre zentrale Bedeutung gibt der weiteren Forschung die Frage auf, ob der starke Arbeitsmarkt im wirtschaftsliberalen Sinne Ergebnis eines «leichten Steuerstaats» ist oder eher entlang einer keynesianischen Analyse als eine Folge der hohen Exportüberschüsse zu verstehen ist, die eine effektiv agierende Zentralbank durch eine erfolgreiche Kontrastierung der «Frankenstärke» ermöglicht. Auch könnten historische Migrationsforscher_innen die Frage beantworten wollen, in welchem Zusammenhang niedrige Arbeitslosigkeit und Phasen restriktiver Migrationspolitik stehen.

Eine weitere Facette der paradoxen Koexistenz geringer Ungleichheit mit niedriger direkter staatlicher Umverteilung in der Schweiz wird in einem Beitrag über die innergenerationale Umverteilungswirkung der AHV ausgeleuchtet. Erfolgreich wird hier der signifikante Umfang der Umverteilung im Rahmen der AHV herausgearbeitet, der in den letzten Jahrzehnten stabil oder sogar leicht steigend war – dies im Gegensatz zur fiskalischen Umverteilung, die seit den 1980er-Jahren sinkt. Auch dieser Beitrag regt interessante weiterführende Fragen an, zum Beispiel danach, welche Lebensstandards diejenigen im historischen Vergleich erreichen, die von der Umverteilung im Rahmen der AHV profitieren. Die Bedeutung der Umverteilungseffekte der AHV liesse sich noch schärfer fokussieren, wenn man mehr darüber wüsste, wie viele der Empfänger_innen von AHV-Leistungen einem Armutsrisiko ausgesetzt sind oder sich diesem Risiko nur durch Auswanderung entziehen können.

Unter den Beiträgen, die sich mit dem weiteren Kontext der Besteuerung beschäftigen, sei zudem der Text von Tamara Boussac hervorgehoben, der sich damit auseinandersetzt, wie fiskalische Umverteilungsprozesse von Beteiligten bewertet und politisch beeinflusst werden. Der Beitrag untersucht eine Protestbewegung gegen als zu hoch empfundene Steuern und Sozialleistungen in einer Kleinstadt im Staat New York in den 1960er-Jahren. Sehr erfolgreich wird hier auf Grundlage von Selbstzeugnissen der Protestierenden eine Röntgenaufnahme dieser Bewegung erstellt. Wenig überraschend ist, dass ein grosser Teil der eher gut situierten, weissen «Wutbürger» seine eigenen Lebensstandards durch fiskalische Umverteilungsprozesse bedroht sah, die in grossem Umfang armen, nicht-weissen Einwohnern zugutekamen. Man mag hierin einen Vorläufer der wirtschaftsliberalen Bewegung erblicken, die ab den späten 1970er-Jahren die USA und andere Teile der Welt veränderte. Allerdings arbeitet Boussac noch eine andere Motivation unter den Protestierenden heraus: Ein Teil derjenigen, die lautstark eine Arbeitspflicht für Empfänger von Sozialleistungen forderten, tat dies unter ausdrücklichem Bezug auf die Arbeitsbeschaffungsprogramme des New Deal und erscheint damit nicht als Verfechter eines schlanken liberalen Staats, sondern eines aktiven keynesianischen Staats, der nicht die soziale Versorgung von Arbeitslosen, sondern die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt stellt.

Unter den Beiträgen, die die Geschichte der Besteuerung im engeren Sinne in den Blick nehmen sind besonders die Beiträge von Vivien Ballenegger über die Erbschaftssteuer in Bern, von Aniko Fehr über die Reichensteuer-Initiative und von Sylvain Praz über die Besteuerung geringer Einkommen in Zürich hervorzuheben. Es bleibt zu hoffen, dass diese innovativen Projekte fortgeführt und an anderer Stelle in grösserem Umfang präsentiert werden. Die hier versammelten «previews» zeigen deutlich die Dynamik und das Potential des Forschungsfeldes.

Neben jüngeren Autor_innen findet sich unter den Arbeiten zur Besteuerung auch der Beitrag von Isaac Martin, der seine Arbeit zu den Verteilungseffekten des Steuerabzugs von Hypothekarzinsen erneut vorstellt. Auch in diesem Fall ist zu hoffen, dass noch ein umfangreicheres Werk folgen wird. Das Thema ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Ungleichheit, weil Bezieher_innen höherer Einkommen ungleich mehr von dieser Regelung profitieren. Es ist aber auch ein für die USA zentrales wirtschaftspolitisches Steuerungselement gewesen, mit dem man eine starke kreditfinanzierte Nachfrage auf dem Immobilienmarkt sicherstellte. Diese Nachfrage machte ein solides Wirtschaftswachstum trotz stagnierender Löhne möglich, führte aber auch direkt in die Überschuldung privater Haushalte und die Finanzkrise von 2008. Die verteilungs- und makroökonomischen Implikationen der steuerlichen Behandlung von Hypothekarzinsen in Europa sind noch zu wenig untersucht und es wäre begrüssenswert, wenn Martin hier Nachahmer in der Alten Welt fände.

Während sich die Verbindungslinien zwischen den Beiträgen über die Neuzeit in diesem Band leicht zeichnen lassen, ist die Integration der Arbeiten über die Frühe Neuzeit und das Mittelalter schwieriger. Das liegt nicht an den Beiträgen, die von ausgezeichneter Qualität sind. Die grundsätzliche Verschiedenheit der Gegebenheit macht aber die Bezugnahme schwierig. Der Steuerstaat entwickelte sich nur dort, wo sich eine Trennung von politischer und ökonomischer Sphäre herausbildete – er ist also ein Spezifikum des Kapitalismus. In früheren Gesellschaften, aber auch in parallel zum Kapitalismus existierenden Wirtschaftsordnungen verorten sich Abgaben und Steuern, soweit es sie gibt, in einem ganz anderen Zusammenhang. Dies wird im Übrigen auch in dem exzellenten Beitrag zur Erbschaftssteuer in der DDR in diesem Band deutlich: Die interessantesten Dynamiken ergeben sich dort, wo DDR-Bürger_innen in ausländischen, kapitalistischen Staaten erben. Der Versuch, in diesem Band auch lange Verbindungslinien über die Epochengrenzen hinweg zu zeigen, hat sicher seine Berechtigung. Ein anderer Weg wäre gewesen, den vormodernen Epochen eigene Bände zu widmen und den gewonnenen Platz einem wichtigen Thema zuzuweisen, das in diesem Band zwar mehrfach angesprochen, aber leider nicht in den Vordergrund gerückt wird: der Geschichte der Steuerhinterziehung und -vermeidung.

Zitierweise:
Schui, Florian: Rezension zu: Guex, Sébastien; Hürlimann, Gisela; Leimgruber, Matthieu (Hg.): Steuern und Ungleichheit. Fiscalité et inégalités, Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 67-69. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

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